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Die Bewegung des Evangeliums

Gepostet Von am 24. April 2015 in Beziehungsgeschichten | Keine Kommentare

Die Bewegung des Evangeliums

Vielleicht ist dies der Kern des christlichen Glaubens: Was am Rand steht, gehört in die Mitte. Wer an den Rand der Verhältnisse geraten ist und sich dort aufhält, kommt in die Mitte dessen, das wir Gott nennen. In die Mitte der göttlichen Aufmerksamkeit und des göttlichen Kraftfelds. Ich bin Gottes Ebenbild. Das ist mir in meiner Taufe unverbrüchlich zugesagt worden, das ist in diesem Moment für alle Zeit Wirklichkeit geworden an mir.

Aber: Glaube ich das für jeden Teil meiner Persönlichkeit? Lasse ich das auch gelten für die schambehafteten, die verdrängten, die abgespaltenen Teile meines Wesens und meiner Lebensgeschichte?

Was am Rand steht, gehört in die Mitte.

Paulus beschreibt im 1. Korintherbrief ein Bild des menschlichen Körpers mit allen zu ihm gehörenden Teilen und Gliedern. Er sagt: Der menschliche Körper besteht aus Teilen, die von uns wichtig genommen und hoch geachtet werden (z.B. Herz, Hirn oder Augen, Hände und Beine). Und aus Teilen, die wir unwichtig finden oder nicht wahrnehmen, nicht ernst nehmen (kleine Körperhaare oder innere Organe). Die Teile sind natürlich nicht gleich, sie sind hoch verschieden. Aber in der Wahrnehmung Gottes sind sie allesamt gleichwertig. Alle Teile gehören unverbrüchlich zusammen; erst in ihrer Vollzähligkeit bilden sie das Ganze. Wenn schon ein einziges Teil fehlte oder gering geachtet und aussortiert, für nicht erheblich erachtet würde, dann wäre die Vollständigkeit des Ganzen zerstört, seine Identität, sein Heil.

Diesem Bild gemäß kann eine menschliche Gemeinschaft sich erst dann wirklich christlich nennen, wenn sie sich so versteht und so miteinander umgeht: im vollen Bewusstsein der Unterschiedlichkeit und zugleich der Gleichwertigkeit aller ihrer Mitglieder. Alle müssen voll geehrt werden als zur Vollständigkeit des Ganzen unerlässliche Teile. Keiner, keine darf geringer geachtet werden als andere oder gar als unbedeutend aussortiert werden.

Paulus geht noch einen theologischen Schritt weiter und sagt: Wenn eine Gemeinschaft so mit sich und der Bedeutung aller ihrer Teile umgeht, dann IST sie Christus. Dann ist Christus in genau dieser Haltung und in allen, die sie einnehmen, lebendig, gegenwärtig und auferstanden. Seine Sache, seine Haltung gegenüber dem Leben, seine Potenz, die wir Christus nennen, sie ersteht auf in einer Gemeinschaft, die sich versteht und lebt wie Jesus es praktizierte. In solch einer Gemeinschaft ereignet sich Ostern, sie wird zum lebendigen Christus, zum Leib Christi.

Was am Rand steht, gehört in die Mitte. Eine Geschichte um Jesus erzählt das genau: die Salbung Jesu im Hause Simons des Aussätzigen in Bethanien durch die Frau. Jesus liefert sich in dieser Begegnung den Lebensbedingungen eines anderen Menschen aus: Simon des Aussätzigen in Bethanien. Jesus geht zu diesem ansteckenden Leprakranken und isst mit ihm.

Alle wissen, die sich ausgestoßen fühlen aus echter menschlicher Gemeinschaft, aus welchem Grund auch immer: Es ist für Körper und Seele tief heilsam, wenn jemand nicht hysterisch auf mich reagiert, sondern sein Leben mit mir teilt – und wenn nur eine bestimmte, vielleicht kurze Wegstrecke. Vielleicht war Jesus drei Stunden bei und mit Simon.

Jesus geht an den äußersten Rand – in das Haus des Aussätzigen: Der ist aus-gesetzt; hinaus aus dem geschlossenen Kreis der normalen menschlichen Gemeinschaft. Auch Jesus setzt sich jetzt aus und bringt dem Simon dort die volle Aufmerksamkeit des anerkennenden göttlichen Blicks. Jesus sieht Simon an und gibt ihm dadurch volles Ansehen. Simon tut übrigens mit: Als Aussätziger hätte er niemanden bei sich empfangen, niemanden an sich herankommen lassen dürfen.

Die eine Bewegung ist: Gott kommt zum Ausgesetzten und definiert ihn damit um zum Zentrum des Lebens, als vollwertiges Gegenüber Gottes, als Gottes Ebenbild. Die andere Bewegung ist: Simon empfängt Gott – die Fülle des Lebens – und definiert sich damit selbst um: als würdig, die Fülle des Lebens zu erhalten und somit wieder zur Mitte des Lebens zu gehören, ja selbst zur Mitte des Lebens zu werden.

Eintreten für unser Leben und für das Leben. In die Mitte der vollen Aufmerksamkeit Gottes geraten.

Was hier Bedeutendes geschieht, erfasst intuitiv die Frau, die dazukommt: Sie tut nun mit Jesus das gleiche, das er mit dem Aussätzigen tat: Sie salbt ihn. In der Hebräischen Bibel werden Könige und Propheten gesalbt als Zeichen der Ermächtigung für ihr Amt. Die Frau gibt Jesus mit dieser Zeichenhandlung die Fülle des Lebens. Sie gibt ihm damit die volle Aufmerksamkeit. Sie gibt ihm den Auftrag Gottes, genau so zu handeln, wie er’s tut, um das Leben ins Fließen zu bringen und es nicht zu blockieren. Sie gibt ihm die Stärkung und Wegzehrung, die Bestätigung und Kräftigung für seinen eigenen aussätzigen Weg, auf dem er seit drei Jahren schon geht und der ihm nun bevorstehen wird als Ausgestoßener auf Karfreitag hin.

Die Frau tut das als selbst am Rand Stehende. Als Frau hat sie keinen eigenen juristischen Wert in der damaligen Gesellschaft; in der späteren kirchlichen Tradition wird sie sogar als Hure verstanden. Jesus, der den Kreis des Gültigen und der Anständigen verlässt, wird von der Frau definiert als Gesalbter Gottes, also als einer, der sich in der Mitte der göttlichen Wahrheit bewegt. ‚Christos‘ heißt ‚der Gesalbte‘. Diese Definition Jesu geschieht hier durch einen Menschen, die gar keine Definitionsmacht hat damals im öffentlichen Leben.

Schwule, Lesben und Bi‘s stehen nicht wirklich am Rand unserer bundesdeutschen Gesellschaft. Transsexuelle und Intersexuelle natürlich schon deutlich mehr. Aber wir wissen alle hier in Deutschland: Es bestehen weiterhin gravierende Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit. Unsere Verfassung hat kein Diskriminierungsverbot in Zusammenhang mit sexueller Identität. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist 2001 nur halb umgesetzt, v.a. das Adoptionsrecht ist noch gravierend ungleich. Gibt es nachvollziehbare sachliche Gründe für diese Haltung und Blockade? Was sagen die christlichen Kirchen dazu?

Als die Synode der vormaligen Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche im Jahr 2000 einen grundlegenden Beschluss fasste zu Aspekten der Lebensformenfrage, da beschloss sie auch eine Schulderklärung und eine Bitte der Kirche um Vergebung gegenüber allen Schwulen und Lesben, die im Namen der Kirche zu allen Zeiten verachtet, verfolgt, entrechtet und vernichtet wurden. Und die Synode erklärte, künftig jeder Form der Diskriminierung gegenüber diesem Personenkreis aktiv und konsequent zu wehren. Wie gut, wie hilfreich, wie heilsam ist das.

Zugleich gibt es nach wie vor Kräfte und Personen, die die substanzielle Differenz in der Bewertung von Heteros einerseits und LGBTIQs andererseits richtig finden; und die meinen, das biblisch-theologisch begründen zu können. Ich halte das für Lästerung Gottes. Was ist zu tun gegen derlei selektierende Tendenzen, gegen solche Meinungen, Haltungen und Handlungen auch innerhalb unserer Kirchen? Ich meine, wir sollten nicht auf die Heimat warten, die unsere Seelen, unser Geist und auch unsere Körper brauchen. Ich meine, wir sollten diese Heimat besetzen. Wie Simon, der Gott und Mensch an seinen Tisch holte. Der sein Haus auf diese Weise durch die Anwesenheit des Göttlichen zur Heimat machte.

Lasst uns das tun, für uns und für andere: Jesus sein, Simon sein, die Frau sein. Eintreten für unser Leben und für das Leben. In die Mitte der vollen Aufmerksamkeit Gottes geraten.

Und andere mit hineinholen.

Amen.

Pastor Nils Christiansen, Ev.-Luth. Kirchengemeinde Meiendorf-Oldenfelde, Hamburg

 

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