Ostfriesland in den 1970er Jahren lebte vom Tourismus. Waren die Sommergäste wieder fort, wurde es still in der norddeutschen Küstenregion. Wer da nicht motorisiert war, kam nicht weit. Die Wette, es an einem Samstagabend binnen zwei Stunden vom Sieldorf in die Kreisstadt und zurück, 40 Kilometer also, zu schaffen, ohne wenigstens ein Mofa zu besitzen, war eigentlich nicht zu gewinnen. Lucie nimmt sie trotzdem an, sie liebt das Kräftemessen.
„Ich hab‘ die Jungs alle vermöbelt. Bis auf zwei, die waren noch ein bisschen stärker als ich.“ Die junge friesische Deern gewinnt die Wette – und lernt dabei Hans kennen. „I’m glad I’m a man and so is Lola – la-la-la Lola“ – der Kultsong der Kinks wird ihr erster Tanz in der Harle River Ranch. „Das war unser Lied. Die Melodie passte zu uns. Der Rhythmus passte zu uns, wir waren eher so die Ruhigen miteinander.“
„Ich hab’ mir immer Kinder gewünscht.“
Als Lucie 21 ist, heiraten die beiden. Niemand hatte ihnen dafür in die Chromosomen geschaut. „Ich wusste, dass da was ist, dass ich anders bin. Ich wusste schon als Kind, dass ich anders bin.“ She walked like a woman and talked like a man, oh my Lola, la-la la-la Lola. Lucie ist das älteste von fünf Kindern, sie ist 13, als ein Gynäkologe ihr sagt, dass sie niemals eigene Kinder haben wird. „Ich hab‘ mir immer Kinder gewünscht. Für mich war das völlig normal, dass eine Familie Kinder hat.“ Weshalb sie keine Kinder haben kann, sagt ihr niemand. Nicht die Ärzte und auch die Eltern nicht. Niemand sollte es wissen, nicht mal die Großmutter. Es war weniger Schutz für die Tochter als vielmehr Schutz für die Familie nach außen. Ein Schweigegelübde innerhalb der Familie. Ein Tabu. Damals, in Ostfriesland. „Die Fassade musste immer stimmen. Mein Leben ist von Fassade immer stark beeinflusst gewesen.“
23 ist sie, als die Ärzte diagnostizieren, dass sie Hoden im Bauchraum hat. Die müssten raus, die hätten Krebs, hieß es damals. „Als ich die Diagnose bekommen habe, dass ich Hoden habe und xy-Chromosomen, da wusste ich nicht, ob ich auf’s Dach gehen sollte oder nach Hause.“ Sie geht nach Hause. Ihr Mann versteht es so wenig wie sie. Zieht sich zurück. Und kommt dann zu dem Schluss, dass sich durch die Diagnose nichts an seinem Verhältnis zu Lucie verändert hat: Sie ist dieselbe, sein Begehren unverändert geblieben. Es ist nur eine Fremdbeeinflussung in die Ehe gekommen.
Hans liebt Lucie bedingungslos. Trotzdem gab es Phasen, in denen die Ehe belastet war. Lucie macht sich Sorgen, dass Hans sich fortpflanzen möchte. „Das konnte ich ihm nicht bieten. Da habe ich mich klein gefühlt.“ Gespräche im Freundeskreis über Schwangerschaften und Kindererziehung lassen sie einsam daneben sitzen, den Sinn ihres Lebens hinterfragen. Eine Adoption wird ihr verweigert: „Sie sind ja gar keine Frau.“ Lucie und Hans stürzen sich in Arbeit, machen Karriere – „Ich bin dann Filialleiter einer Bank geworden.“ – bauen ein Haus, reisen, nehmen Gastschüler auf.
„Ich verstehe nicht, dass man Mensch nicht Mensch sein lassen kann.
Ist das so eine Gefahr für die Ordnung?“
Das Tabu, das Schweigegelübde wirkt weiter. Bis ihr zufällig bei der Hausärztin ihre Akten in die Hand fallen. Mitte vierzig ist sie da und liest auf den alten Durchschlägen der Arztbriefe: Zwitter. Gonadektomie. „Damals wusste ich nicht mal, was das ist.“ Es bedeutet: Kastration. Ein heute noch üblicher Umgang mit Menschen, die biologisch keinem eindeutigen Geschlecht zuzuordnen sind. Sie werden operiert und hormonell behandelt, als könne man Geschlecht machen. „Ich verstehe nicht, dass man Mensch nicht Mensch sein lassen kann. Ist das so eine Gefahr für die Ordnung?“ Soll damit eine Ordnung hergestellt werden, die es eigentlich nie gegeben hat? Die lediglich eine kulturelle Setzung ist? Eine binäre Ordnung – männlich oder weiblich – die so vielleicht gar nicht vorgesehen war?
„Mein Mann sieht in mir keinen Mann. Bin ich auch nicht. Wir scherzen jetzt manchmal, dass ich sein Heimzwitter bin.“ Lucie ist durch eine Wüste von Schweigen, Diskriminierung und Einsamkeit gegangen. „Wir müssten eigentlich lernen, das Besondere, das Schöne, das Gute zu sehen.“ Lernen, uns so anzunehmen, wie wir von Gott geschaffen sind und uns daran zu freuen, wie ein anderer Mensch ist. Lernen, die Unterschiede genießen zu können. „Wir müssen lernen, besser zu lieben. Liebe und Respekt füreinander hängen doch nicht an irgendeiner Geschlechtlichkeit.“